Die Bilche

Von Theodor Lessing

 

Wenn in Vollmondnächten des Sommers der Nachtwind klagt durch die verschollenen Gärten der Vorzeit, wenn die zerbröckelnden Apolle und Dianen erwachen in den Parks alter Barockschlösser, wo die Wappenbilder der großen Herren an zerfallenem Mauerwerk frieren; ja - da kann es noch bisweilen geschehen, daß durch die hundertjährigen Ulmengänge eine gespenstige Kolonne von Geschöpfen huscht, die, seitdem die ganze Welt bevölkert ist von nützlichen Hühnern, gemästeten Schweinen und milchgebenden Kühen, sich in die letzten ungenützten Gärten menschenscheu zurückgezogen haben, um in Schönheit dort auszusterben. - Das sind die Bilche, die Gartenschläfer, - Murmeltierverwandte1. Halb Eichhörnchen von zierlichster Rassigkeit, halb süße Mäuseschnäuzchen, hellgraue Köpfchen mit großen dunklen Perlaugen wie Glasknöpfe; müßiggängerisch und raubgierig, lüstern und böse, menschenscheu und lichtfern, aber von so ausgeprägter adeliger Schönheit, daß ich klagen muß: »Wie ärmer an Schönheit wird nun bald die Erde sein, wenn sie auch dich nicht mehr zeugen wird, kleines herzloses, nutzloses, wunderschönes, geliebtes Mörderchen.« - Jean Baptist Porta, der große Charakterognomiker zur Zeit der Renaissance, hat den Gedanken ausgeführt, daß nicht nur jedes Menschengesicht ein heimliches Tiergesicht berge, nein, daß auch alle Gesellschaftsschichten und Völkertypen vorbildliche Lebensgepräge in der außermenschlichen Welt hätten und daß wir, um Erdengeschichte und Menschenschicksal zu verstehen, nur die Augen zu öffnen brauchten für die Sprache der Gestalten, wie sie die Natur offenbart in unsern Brüdern, Pflanze und Tier. Indem ich nun diesem Gedanken des Porta nachsinne, wird es mir klar, daß in Tat eine magische Beziehung besteht zwischen den Wappenbildern und Gräbern der untergehenden Ritter- und Herrenwelt und den gespenstigen Gartenschläfern, die auf diesen alten Herrensitzen absterben. Sie sind einst mit den Römern von Spanien, Italien und Griechenland in großen Scharen eingewandert nach Österreich, Deutschland, Böhmen, Mähren, Schlesien, bis in die stillen Täler des Harzes. Die Römer hielten sie (die das Volk mit den gewöhnlichen Siebenschläfern verwechselt), ihrer anmutigen Schönheit wegen, heilig2. Die großen Herren züchteten sie auf ihren Landsitzen, wo auch die Bilche als Grandseigneurs lebten. Martial schon fühlte ihre Verwandtschaft mit den vornehmen Nichtstuern, die alles Leiden der Welt zu verschlafen wissen, und spottete:

»Winter, dich schlafen wir durch und strotzen von blühendem Fette;
Just in den Monden, wo uns nichts als der Schlummer ernährt.«3

Mögen die Götter mir verzeihen: ich liebe alles, was schön, zierlich und unnütz ist, und sogar dann, wenn es einen so hundsmiserabel schlechten Charakter hat, wie die in Deutschlands letzten Eichen zuweilen noch hängenden letzten Gartenbilche. - Und da es doch nun einmal eine mählich degenerierende Gattung ist, so dürfte es von Wert sein, hier aufzuzeichnen, was sich über den zoologischen Charakter der aussterbenden Edelbilche noch ermitteln läßt. Da ergibt sich nun dieses:

Sieben Monate lang, von Oktober bis Mai, schlafen die edlen Geschöpfe. Kein Licht und keine Wahrheit vermöchte sie aufzuwecken; man kann sie im Schlafe forttragen oder auch elektrisieren. Im Mai aber wachen sie auf und beginnen sofort sich zu paaren. Bei der Paarung sind sie händelsüchtig und bissig. Die Männchen kämpfen um das fetteste Weibchen. Sie fordern sich zu sehr ernsten Duellen. Es kommt oft vor, daß einer der Gegner vom andern totgebissen und sofort gefressen wird. Bei der Brutpflege sind sie sorgsam, aber lieben ihre Jungen nicht zu verzärteln. Sie halten die Jungen frühzeitig an zu Kämpfen und Beiß- und Nageübungen, und obwohl sie sonst sehr reinlich sind, so haben sie doch fast nie saubere Nester und erobern sich lieber neue Nester, als daß sie den Schmutz aus den alten beseitigen. - Es gibt kein Nagetier, das es ihnen an Gefräßigkeit zuvortut. Sie fressen, solange sie fressen können4: Eicheln, Haselnüsse, Bucheckern, Walnüsse, Kastanien, Eier, Weißbrot, Schinken, Delikatessen, und wenn nicht genug da ist, so fressen sie auch ihre Verwandten, am liebsten das gemeinere proletarische Murmeltier5. Sie sind typisch »asozial« und »egozentrisch« (eigenbezüglich). Jede Gartenschlafmaus ist eine kleine Welt für sich und ständig bereit, die andere zu fressen; doch halten sie nach außen gegen ihre Feinde, Marder, Iltis und Wildkatze, streng zusammen und wahren somit ihre Standesinteressen. Wasser lieben sie nicht, sondern ziehen Früchte vor und begeben sich besonders gern in die Weinberge. Gerne plündern sie Singvögelnester. Sie sind geistig nicht sehr beweglich, aber sehr mutig. Sie sind fortwährend in gereizter Stimmung, und auch die Jungen sind so abweisend und hochmütig wie die Alten. Es ist noch niemals gelungen, sie zu zähmen. In Gefangenschaft hassen sie den Wärter und fauchen ihn an, er mag ihnen noch so viele Guttaten erweisen6. Ihre größte Tugend ist ihre Schönheit. Sie sind unendlich schöne und reinliche, aber langweilige Tiere. Sehr gern dringt der Gartenschläfer in die Gehöfte der Bergbauern und raubt sich Eier, Brot, Speck und Schinken. Sie sind verwöhnteste Gourmets. Nur die besten und saftigsten Früchte wählen sie, beißen aber probeweise auch alle andern mal an und zerstören somit mehr, als sie zum Leben nötig haben. Es gibt kein Mittel, sie abzuhalten. Sie schlüpfen durch die Maschen der feinsten Netze und zernagen die festesten. Sie klettern über Spaliere und beißen sich selbst durch Drahtgeflechte durch: Sie vereinen den Blutdurst des Wiesels mit der Nagefreudigkeit der Ratte. Sie müssen auch voreinander auf der Hut sein. Wenn zum Beispiel eines früher als die andern einschläft, so fallen die Genossen über dieses her und fressen es auf. Aus diesem Grunde handeln sie immer solidarisch. Sie schlafen alle gemeinsam ein; sieben Monate lang. - Die Bauern und die ganze arbeitende Menschheit hat sich verschworen, die schönen Geschöpfe auszurotten. Man haßt sie besonders deswegen, weil weder ihr Fleisch eßbar ist, noch ihr Fell sich nützlich verwenden läßt. Man kann schließlich diesen Haß gegen die Bilche begreifen, denn sie haben durchaus keinen guten Charakter. Aber wer die schönen Geschöpfe in ihrer vornehmen Zurückgezogenheit in den verschollenen Parks und versunkenen Adelsgärten gesehen hat, wer die Schönheit der alten Erde liebt und die Häßlichkeit der neuen durchschaut, der muß meinen Seufzer nachfühlen: »Geliebter Herr v. Bilch, wie schade daß nun auch Sie aussterben.«

(zitiert nach: Sentimentale Tiergeschichten. Eine Anthologie von Eckhard Henscheid). Die Rechte an diesem Text liegen bei Theodor Lessings Enkel Peter Gorny, der uns die Verwendung netterweise nachträglich genehmigt hat. Vielen Dank!

 

1 Meines Wissens: Blödsinn
2 Vermutlich frei erfunden
3 Zum lateinischen Original
4 Fast wörtlich von Brehm abgeschrieben
5 Frei erfunden
6 Siehe 4

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