"Die Buße" (Auszug)
Aus: Thomas Mann, Der Erwählte, 1951

Hier zitiert als Ergänzung zu Freiherr von Valvasor "Von den Thieren in Crain, und zwar sonderlich von dem so genannten Thierlein Billich"


Was bisher geschah: Gregorius, selbst bereits ein Kind des Inzests, stellt fest, dass er versehentlich seine Mutter geheiratet hat. Jetzt ist das Maß voll und all diese schauerlichen Sünden sollen ein für allemal abgebüßt werden. Er legt ein härenes Hemd an und macht sich auf der Suche nach einer Wüstenei, wo er "büßen könnte bis in den Tod". Ein Fischer ist ihm dabei nicht ohne Bosheit behilflich, legt ihm eiserne Beinschellen an und rudert ihn zu einem wilden Stein weit draußen im Meere hinaus. Und dann ...

Kristlicher Leser! Höre und glaube mir! Großes und Eigentümliches habe ich dir zu berichten, Dinge, die zu erzählen Mut erfordert. Wenn ich aber den Mut finde, sie auszusagen, so solltest du dich schämen, nicht soviel Mut aufzubringen, sie zu glauben. Nicht voreilig will ich dich einen Zweifler schelten; vielmehr baue ich auf deinen Glauben, genau so weit, wie ich auf meine Fähigkeit baue, das mir Überlieferte glaubwürdig mitzuteilen. Auf diese Fähigkeit aber baue ich sehr fest und also auch auf deinen Glauben.

Meine wahrhaftige Mitteilung ist: Auf dem engen Geviert der Kegelplatte dieses wilden Steines im See verbrachte Gregorius, des Wiligis und der Sibylla Sohn und Gatte der letzteren, mutterseelenallein und bar aller Gnade so viele Jahre, wie er gezählt hatte, als er tadelnswerterweise sein Eiland fern im Meer und das Kloster "Not Gottes" verlassen hatte, - volle siebzehn Jahre verbrachte er dort ohne eine andere Bequemlichkeit als das Himmelsdach über sich, ohne Schutz weder vor Reif noch vor Schnee, weder vor Regen noch Wind, noch vor Sonnenbrand, bekleidet nur - aber wie lange hielt das denn vor! - mit seinem härenen Hemd, bei nackten Armen und Beinen.

Ihr glaubt es nicht? Ich werde euch dessen versichern, und zwar nicht, indem ich einfach zu dem Trumpf meine Zuflucht nehme, daß vor Gott kein Ding unmöglich und Ihm kein Wunder zuviel ist. Das wäre zwar durchschlagend, aber zu wohlfeil. Äußerlich müßte euer Zweifel davor verstummen, aber heimlich könnte er fortnagen. Das darf nicht sein, und darum will ich mich nicht auf Gottes Allmacht berufen. Ohne Predigt, vernunftgemäß und geruhig, wenn auch selbst tief ergriffen von meiner Kunde, will ich den Fragen Rede stehen, die ihr mit gerungenen Händen, unter vielen "Ja, sag uns um Gottes willen" und "Mönch, erwäge doch, wie denn aber" stellen mögt, und deren erste natürlich dahin geht, wie sich der Büßer auf dem nackten Felsen denn auch nur kurze Zeit, geschweige denn siebzehn Jahre lang ernährt habe. Kamen Raben geflogen, ihn zu speisen? Fiel Manna vom Himmel, nur um seinetwillen? Nein, es war ganz anders.

Den ersten Tag, nachdem der Fischer ihn höhnisch verlassen hatte und Gregor in vollkommener Einsamkeit zurückgeblieben war, verharrte er am Fleck, saß, die Kniee mit den Armen umschlungen, oder kniete auch mit gefalteten Händen vor Gott und betete für seine armen, reizenden Eltern, für den entschwundenen Wiligis, für Sibylla, sein Weib, die nun wahrscheinlich schon Gichtbrüchige badete oder doch Anstalten dazu traf, und auch für sich selbst, indem er sich ganz und unbedingt der Verfügung Gottes und seinem Willen anheimgab, wie er ihm ja auch tatsächlich anheimgegeben war. Der zweite Tag aber war erst einige Stunden alt, als Hunger und Durst ihn nicht länger ruhen ließen und er, fast ohne Wissen und Wollen, auf allen vieren, da er mit seinen Füßen im Eisenhalter nicht einen Schritt tun konnte, auf der Plattform suchend umherzukriechen begann.

In der Mitte, ziemlich genau, war im Gestein eine kleine Mulde, darin stand weißlich trübes Naß bis zum Rande, vom gestrigen Regen wohl, wie er dachte, nur eben auffallend trüb und milchig, - willkommen ihm jedenfalls zum Trunk, wie unsauber, und woher so unsauber, es sein mochte, - er war der Letzte, der Ansprüche zu stellen hatte. Darum beugte er sich über das kleine Becken und schlürfte mit Lippen und Zunge, was darin war, schlappte es aus, so wenig es war, nur ein paar Löfefl voll, und leckte wahrlich den Grund des Grübchens noch ab, als es leer war. Der Trank schmeckte zuckerig-leimig, nach Stärke etwas, etwas würzig nach Fenchel, dazu metallisch nach Eisen. Gregorius hatte gleich das Gefühl, daß durch ihn dem Durste nicht nur, sondern auch dem Hunger Genüge geschah, und zwar überraschend gründlich. Er war satt. Leicht stieß es ihm auf, und etwas von dem Getrunkenen floß ihm aus dem Munde wieder hervor, als sei das wenige schon zuviel gewesen. Er fühlte sein Gesicht ein wenig gedunsen, eine rötende Wärme stieg in seine Wangen, und als er zu seinem ersten Platz am Rande des Steines kriechend zurückgekehrt war, fiel er, den Kopf auf eine niedrige Stufe des Felsens gelegt, wie ein Kind in Schlaf.

Nach einigen Stunden erwachte er von leichtem Bauchgrimmen, das ihn verdrießlich die gefesselten Beine regen ließ, und über das er wohl hätte greinen mögen. Es verging jedoch bald, und Hunger spürte er nicht. Nur aus Neugier begab er sich gegen Abend noch einmal zu der Höhlung inmitten der Platte. Auf ihrem Grunde hatte sich wieder etwas von der Flüssigkeit angesammelt: nicht mehr, als daß sie nur dünn den Boden bedeckte. Doch ließ sich wohl ausfigurieren, daß, wenn es mit der sickernden Erneuerung im selben Maßstabe weiterging, über Nacht die Mulde sich wieder gefüllt haben würde.

So geschah es auch, und am neuen Tage stärkte Gregor sich neu mit dem Sud, schleckte alles aus bis zu wärmlicher Schläfrigkeit, denn hatte er während der Nacht sehr bitter unter der Kälte gelitten und nicht gewußt, wohin er sein armes Bettlerhemd ziehen und wie darin Zuflucht finden sollte, so half dem der Steinsaft für mehrere Stunden ab, rein durch die Sättigung, weshalb der Einsame auch am Abend, wenn wieder etwas davon hervorgetreten war, sich damit atzte, um weniger zu frieren.

Ich vermag euch zu sagen, welche Bewandtnis es damit hatte, denn ich habe die Alten gelesen, bei welchen mit vielem Recht die Erde sich den Namen der großen Mutter und magna parens erwarb, aus der jedwedes Lebendige sprießend heraufgeschickt und gleichsam Gott emporgereicht, kurz, aus Mutterleib geboren worden sei. So auch der Mensch, der nicht zufällig homo und humanus heißt, zum Zeichen nämlich, daß er aus dem Muttergrunde des humus ans Licht trat. Alles aber, was gebiert, hat auch die notwendige Nahrung für seine Kinder, und gerade daran erkennt man ja, ob eine Frau wirklich gebar und nicht etwa ein fremdes Kind als eigenes vorweist, daß sie nämlich über die Quellen der Nahrung für das Geborene verfügt oder nicht verfügt. Darum wollen jene Autoren, die ich verehre, wissen, daß anfangs die Erde ihre Kinder mit eigener Milch ernährte nach der Geburt. Denn ihre uteri hätten als Schläuche tief hinabgereicht mit ihren Wurzeln, und dahin habe von selbst die Natur die Kanäle der Erde gelenkt und milchähnlichen Saft aus der Öffnung der Adern fließen lassen, wie ja auch jetzt bei allen entbundenen Frauen süßliche Milch in die Brust sich ergießt, weil dorthin der ganze Säftestrom des mütterlichen Körpers, oder vielmehr ein nährender Auszug davon, gesandt wird.

Klein, unfertig und unerwachsen, heißt es, noch nicht berufen zur Weihe höherer Nahrung, zum Bau des Getreides, habe damals der Mensch an den Brüsten der Mutter gehangen und kindische Nahrung genossen. Wie recht aber meine Gewährsleute, die Alten, mit dieser Aufstellung haben, zeigt die Geschichte Gregors. An einigen wenigen Stellen der Erde, es werden im ganzen nur zwei oder drei sein, noch dazu an versteckten und unbewohnten Orten gelegen, sind solche Nährsaftquellen der Urzeit, tief in den mütterlichen Organismus hinabreichend, gleichsam aus alter Gewohnheit, in wenn auch herabgesetzter Tätigkeit geblieben, und eine von ihnen, wo noch die aufsickernde Frühnahrung in vierundzwanzig Stunden ein kleines Becken füllte, hatte der Büßer auf seinem Steine vorgefunden.

In der Folge schrumpelt Gregorius auf seinem Steine mehr und mehr zusammen, bis er nach etwa fünfzehn Jahren "nicht viel größer als ein Igel" ist, "ein filzig-borstiges, mit Moos bewachsenes Naturding". Womit wir wieder beim Bilch wären - im Winter geschieht nämlich folgendes:

... die Winter verbrachte das büßende Wesen in zeitlosem Murmelschlaf und kroch währenddessen auch nicht zur Atzung, da sein stoffliches Leben bis zum Stillstand gemindert war, ehe es sich bei steigendem Sonnenbogen wieder zum Wechsel löste.

Nach siebzehn Jahren allerdings stirbt der Papst, und ein würdiger Kirchenmann hat eine Vision, in welcher ihm mitgeteilt wird, wo der Papstnachfolger zu finden sei: auf einem wilden Steine nämlich. Man macht sich auf die Suche und findet am beschriebenen Ort ein struppiges kleines Geschöpf. "Hinweg von mir! Hinweg von hier! Stört nicht die Buße von Gottes größtem Sünder!" ruft das Geschöpf.

Entgeistert blickten die Herren einander an. Ihre Hände umklammerten sich fester. Der Prälat schlug mit dem Schlüssel das Kreuz. Er sagte:
"Du sprichst, Creatur. Ist daraus zu schließen, daß du an der Menschheit teilhast?"
"Außer ihr bin ich", kam die Antwort. "Hinweg von dem Ort, der mir angewiesen, damit ich durch äußerste Buße dennoch vielleicht zu Gott gelange!"

Es folgt einiges Hin und Her ...

"Teufelshohn ist es und Blendwerk der Hölle!" stieß der andere zwischen den Händen hervor. "Fugamus! Wir sind des Teufels Narren! Gott hat kein borstiges Tier des Feldes zu Seinem Bischof erwählt, und legte es sich hundertmal des Erwählten Namen bei! Fort von hier, fort von der Stätte höllischen Schabernacks!"
Er sprang auf und wollte enteilen. Probus hielt ihn am Gewande fest. Hinter ihnen aber hörten sie bescheidentlich sagen:
"Ich habe einst grammaticam, divinitatem und legem studiert."

Nun ja. Am Ende wird doch noch alles gut, soviel sei schon mal verraten, und wer das überaus erbauliche Buch selbst lesen möchte, der wird es z.B. bei amazon.de finden.

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